Transparenz und Synchronisation mit ETEO und eteoBoard

 
In meinem Buch “Scrum Think b!g” gibt es Beiträge von Partnern und Freunden, die schon lange mit den Ideen arbeiten, über die ich schreibe. Dazu gehört auch Dr. Vincent Tietz, der zum Zeitpunkt, als “Scrum Think b!g” entstanden ist, Senior Consultant und ScrumMaster bei der Saxonia Systems AG war. In seinem Beitrag erzählt er, wie man elektronische Tools und das Prinzip der Informationsweitergabe auf strategischer Ebene einsetzen kann und wie aus einer problematischen Situation ein Produkt wurde.
 
Anfang 2010 standen wir, die Saxonia Systems AG, vor einer großen Herausforderung. Durch die 2008 beginnende Halbleiterkrise verloren wir als IT-Dienstleister bis Ende 2010 ein ganzes Kundensegment und ca. 40 Prozent des regelmäßigen Auftragsbestands. Die parallel ausbrechende Finanzkrise erhöhte den Druck, schnellstmöglich Maßnahmen zu ergreifen, die das Unternehmen stabilisieren und ihm eine langfristige Perspektive geben konnten. Zur gleichen Zeit machten wir positive Erfahrungen mit agilen Projektmanagementmethoden. In unseren Softwareentwicklungsprojekten, sowohl Inhouse als auch in Kundenprojekten, setzten wir zunehmend auf Scrum und wir begannen darüber nachzudenken, ob sich die Prinzipien von Scrum nicht auch auf das Management und dessen Strategieplanung und -umsetzung übertragen ließen.
Im Oktober 2010 begann das Management damit, strategische Ziele zu identifizieren und diese wiederum in mehrere strategische Initiativen zu zergliedern, die mit Product Backlog Items vergleichbar sind. Sie wurden entsprechend priorisiert und für mindestens einen der viermonatigen Strategiesprints (unterjähriger Tripel-Turnus) eingeplant. Das gesamte Unternehmen sollte Klarheit darüber erhalten, welche strategischen Ziele verfolgt werden und wer diese umsetzt. Neben der flexiblen Planung und der Fokussierung der Ressourcen erhoffte man sich die Einbeziehung aller Mitarbeiter, die gleichermaßen an der Umsetzung mitwirken konnten. Wie Scrum in der Softwareentwicklung lebt auch der agile Strategieprozess von Transparenz und Synchronisation. Wertschätzung und Sichtbarkeit der eigenen Arbeit sind genauso wichtige Antreiber wie Freiwilligkeit und Pull-Prinzip.
Wie erreicht man Transparenz und Synchronisation? Scrum-Teams nutzen eine Zettelwand, die im aktuellen Sprint die Aufgaben bereithält und deren Bearbeitungsstand visualisiert. Das Daily Stand-up nutzen die Teammitglieder, um sich über die getane und geplante Arbeit auszutauschen. Nicht zuletzt entstehen dabei Synergien, die dabei helfen, Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Alle im Team achten gemeinsam darauf, dass die Arbeit fokussiert und zielgerichtet verläuft. In Analogie dazu haben wir im Strategieprozess ein Stand-up etabliert, das jede zweite Woche mit allen unseren Mitarbeitern stattfindet. Wir tauschen uns dabei über die gerade anliegenden strategischen Initiativen aus. Verdeckte Projekte sind damit kaum mehr möglich und Synergien sowie weiterführende Ideen entstehen oft ganz nebenbei.

Aus der Not wird ein Produkt

Die Saxonia Systems AG war damals ein Unternehmen mit den fünf Standorten Dresden, Leipzig, Görlitz, München und Hamburg. Heute sind es mit Berlin insgesamt sechs Standorte. Weil unsere Consultants viel reisen und es standortübergreifende Teams gibt, begannen wir uns Ende 2010 Gedanken darüber zu machen, wie wir – trotz gegenteiliger Empfehlungen der agilen Community – die verteilte und agile Zusammenarbeit verbessern konnten. Unseren Ansatz nannten wir „Ein Team
Ein Office“ (ETEO). Der ausschlaggebende Punkt schien uns die fehlende Interaktion von Angesicht zu Angesicht zu sein. Daher statteten wir zu Beginn ein Team mit einer Videokonferenzanlage aus, die permanent und in Lebensgröße Teilteams miteinander verband. Für unsere Teams war das ein riesiger Schritt, trotzdem kam das Daily Stand-up nicht richtig in Schwung.
Es war mühselig, mehrere Zettelwände an mehreren Standorten zu synchronisieren, ebenso das Navigieren durch Aufgabenmanagementsysteme an einem PC. Deshalb entwickelten wir ab Januar 2012 auf eigene Initiative unserer Softwareentwickler das digitale und touchbasierte eteoBoard. Wichtig für uns waren die Visualisierung und der Flow-Effekt während der täglichen Stand-up-Meetings – Features, die wir zu diesem Zeitpunkt bei vergleichbaren Lösungen vermissten. Gleichzeitig machte das eteoBoard den Projektfortschritt als einen integralen Bestandteil des Projektraums permanent sichtbar. Heute ist es somit unser Werkzeug für Transparenz und Synchronisation sowohl in unseren Softwareteams als auch bei der Umsetzung des agilen Strategiesprints.
Das eteoBoard synchronisiert jede Interaktion mit allen Standorten, die untereinander verbunden sind. Dabei ist es gleich, ob ein Zettel bewegt, ein Bild eingeblendet oder ein Bearbeiter zugewiesen wird. Jeder Schritt wird durch effiziente Datenübertragung an allen Boards identisch in Echtzeit dargestellt. Es liefert damit einen enormen Mehrwert für verteilte Teams, die bisher entweder mit Zettelwänden oder mit anderen Task-Managementsystemen zu kämpfen hatten. Für uns ist das Tool so wichtig geworden, dass wir es in allen unseren Projekten einsetzen und unseren Kunden in gemeinsamen Projekten ebenfalls zur Verfügung stellen. Unsere Kunden wissen die Transparenz zu schätzen und können damit eher auf den Erfolg vertrauen. Gleichzeitig dient das eteoBoard als Kommunikationstool für verteilte Teams – als Mittel zur täglichen Synchronisation.

Vom Tool zur strategischen Initiative

Was in den verteilten Scrum-Teams funktionierte, übertrugen wir auf unseren Strategieprozess. Dabei erfüllt das eteoBoard zwei wichtige Funktionen: Einerseits dient es als Visualisierung der aktuellen strategischen Initiativen. An jedem Standort gibt es mindestens eine Instanz des eteoBoards zur Visualisierung aller aktuellen strategischen Initiativen. Die Nutzer des eteoBoards können den Detailgrad der Darstellung verändern und die Inhalte der einzelnen Aufgaben einsehen, ohne die Inhalte, den Status oder die Zuteilung zu Bearbeitern verändern zu können. Andererseits dient es uns während der Stand-ups mit allen Mitarbeitern als interaktives Aufgabenboard. Jeden zweiten Freitag versammeln sich die Mitarbeiter zum traditionellen Pizzaessen. Anschließend berichten die Bearbeiter der strategischen Initiativen über den Stand der Arbeiten und die aktuellen Herausforderungen. Da jeder Standort ein eteoBoard mit Videokonferenzanbindung besitzt, können diese das Meeting auf freiwilliger Basis direkt verfolgen oder aktiv werden. Zusätzlich ist es für alle 230 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter möglich, zum Beispiel auf Reisen oder aus dem Home Office via Skype for Business teilzunehmen. Der bisherige Rekord liegt bei 85 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. So schaffen wir es, alle Mitarbeiter in einem verteilten Unternehmen zu synchronisieren und gemeinsam an strategischen Aufgaben zu arbeiten.
Nachdem wir die Tragweite der verteilten und agilen Zusammenarbeit erkannt hatten, hielten wir es für richtig, unser Konzept ETEO ebenfalls zu einer strategischen Initiative zu erheben und ab Anfang 2015 inhaltlich mit Unterstützung eines externen Team-Coaches weiter zu verfolgen. In Interviews mit unseren Kollegen sammelten wir die Erfahrungen aus unseren bisherigen Projekten, um zu erfahren, welche Probleme und Chancen sie in der verteilten Teamarbeit sahen und welche
Maßnahmen sie in ihren Projekten ergriffen hatten. Dabei stellten wir fest, dass erfolgreiche verteilte und agile Teamarbeit von mehreren Faktoren abhängt als nur von einer Videokonferenzanlage und einem digitalen Scrum-Board. Wir sammelten Best Practices für die Gestaltung des verteilten Projektraums, sammelten Werkzeugideen und Empfehlungen für die Gestaltung der verteilten Rollen und Prozesse in agilen Projekten: Wer unterstützt den ScrumMaster in einem Team, das über mehrere Standorte verteilt ist? Von welchem Standort aus agiert der Product Owner? Können beide ihren Rollen vollends gerecht werden oder braucht man gegebenenfalls einen Stellvertreter? Besteht das Team ausschließlich aus internen Mitarbeitern oder bilden wir ein Team mit unserem Kunden? Verstehen die Führungskräfte die Implikationen der Verteilung?
Darüber hinaus stellten die Teams fest, dass es schwieriger ist, eine vertrauensvolle Atmosphäre, eine Identität und den Teamzusammenhalt aufzubauen und zu erhalten. Daher entwickelten wir gemeinsam mit einem Team-Coach eine Toolbox, die vom ScrumMaster und vom gesamten Team genutzt werden kann, um ein Team in der verteilten und agilen Softwareentwicklung zu stärken. Grundlage ist ein Wertekompass, der auf den fünf Scrum-Werten Fokus, Offenheit, Verpflichtung, Respekt und Mut aufbaut. Wir ergänzen die Werte Identität, Empathie, Kollaboration, Vertrauen und Einfachheit. Gerade die letzten beiden Werte sind häufig eine Herausforderung in verteilten Teams. In Retrospektiven kann der Wertekompass einem Team dabei helfen, die Werte zu diskutieren, zu bewerten und darauf aufbauend Maßnahmen zur Verbesserung abzuleiten.
 

Der Wertekompass (Copyright: Christian Chalupka)

Der Wertekompass (Copyright: Christian Chalupka)


 

Das Wissen verteilen

Nach unserem Empfinden ist der Aufbau einer guten Umgebung für verteilte und agile Teamarbeit recht anspruchsvoll. Daher begleiten wir die Projekte von Beginn an, unterstützen den Aufbau des Projektraums, helfen bei der Werkzeugwahl und beraten hinsichtlich der Rollen und Organisation eines verteilten Projekts. Bei unseren Kunden schaffen wir mit Management- und Team-Workshops die nötigen Voraussetzungen für ein erfolgreiches verteiltes Team. Während des Projekts unterstützen wir die ScrumMaster und setzen bei Bedarf abgestimmte Workshops an, um die Teams zum Beispiel im Rahmen der Ausbildung ihrer Fähigkeiten zu motivieren und zu synchronisieren. Bei Projektende werten wir die Erfahrungen aus und geben sie an neue Projektteams weiter. Es erstaunt uns noch heute, was im Rahmen einer strategischen Initiative entstehen kann, wenn man den Ideen Raum gibt, sich zu entfalten. Die Früchte der agilen Strategieentwicklung, des ETEO-Konzepts und des eteoBoards ernten unsere Teams und unsere Kunden.
Verschiedene Quellen berichten, dass ein Großteil (bis zu 40 %) aller Entwicklungsprojekte weltweit gezwungenermaßen verteilt realisiert wird (vgl. Ambler 2012). Agilität und Verteilung sind kein Widerspruch, sondern eine Chance. Eine gelungene Kombination agiler Methoden und moderner Kollaborationswerkzeuge macht selbst verteilte Projekte und Organisationen gut beherrschbar. Die Transparenz und Synchronisation sowie die kontinuierliche Verbesserung ermöglichen es uns, den Herausforderungen erfolgreich zu begegnen. Bereits im Frühjahr 2012, nach dem sechsten Sprint, waren die wichtigsten strategischen Initiativen umgesetzt. Unsere Scrum-Teams konnten ihre Reisetätigkeit reduzieren und weiterhin gute Software abliefern. Darüber hinaus sprechen uns Kunden an, um mit uns gemeinsam auch verteilte IT-Projekte zu realisieren. Wir haben aus der Krise gelernt und mit einem agilen Ansatz auf allen Ebenen unserer Organisation einen spannenden Weg in die Zukunft gefunden. Sie hat bisher ungeahnte Ressourcen und Ideen freigesetzt. Wohin uns das führen wird, wissen wir heute noch nicht. Aber es wird gut werden.
 
 
Foto Dr. Vinzent TietzDr. Vincent Tietz ist Projektmanager und Agile Coach bei OSP in der Otto Group in Dresden. Seine Leidenschaft sind eingespielte Teams, die Exzellenz im Handwerk, Mehrwert für den Kunden und echte Zusammenarbeit in den Mittelpunkt stellen. Bei der Saxonia Systems AG war er Softwareentwickler, Scrum Master und für die Optimierung der agilen und verteilten Zusammenarbeit verantwortlich. Heute arbeitet er bei OSP an der Etablierung einer agilen Organisationsentwicklung.
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Geschrieben von

Boris Gloger Boris Gloger Boris Gloger zählt als erster Certified Scrum Trainer weltweit zu den Scrum-Pionieren und ist ein Vordenker für neue Arbeitsformen. Er glaubt nicht nur an Scrum, weil es bessere Produkte in kürzerer Zeit hervorbringt, sondern auch, weil es den Arbeitsplatz in einen humaneren Ort verwandeln kann. Boris ist Unternehmensberater, Autor, Serial Entrepreneur und Keynote Speaker und zählt weltweit zu den Pionieren von Scrum und Agilität. Für ihn war „Agile“ immer mehr als reine Methodik: Als einer der Ersten hat er erkannt, dass in agilen Denk- und Arbeitsweisen die Kraft steckt, Organisationen von Grund auf neu auszurichten und dadurch fit für das 21. Jahrhundert zu machen. An seinen Ideen zu einem modernen, agilen Management orientieren sich heute viele nationale und internationale Unternehmen. Als Vater zweier Kinder hat Boris ein starkes Bedürfnis, in der Gesellschaft etwas positiv zu verändern. Deshalb engagiert er sich u. a. für eine radikale Umkehr des derzeitigen Bildungssystems, wie etwa mit dem erfolgreichen Pilotprojekt Scrum4Schools. Er ist fest davon überzeugt, dass Selbstorganisation und das Prinzip der Freiwilligkeit die besten Wege sind, um Ziele zu erreichen und ein eigenständiges Leben zu führen.

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