ScrumMaster sind Meister der Effekte und Illusionen (Teil 1) – der Othello-Effekt

Unlängst schilderte mir ein guter Bekannter, ein Unternehmensberater, dass er eine Führungskraft zu unterschiedlichen Ausprägungen ihrer Kompetenz befragte. Er wollte mit der betreffenden Person gemeinsam Handlungsfelder identifizieren, in denen diese sich entwickeln könnte. Es kam allerdings heraus, dass die Führungskraft mit dem Stand ihrer Entwicklung vollends zufrieden war und dass aus ihrer Sicht derzeit kein wirklicher Handlungsbedarf bestand. Etwas irritiert erzählte mir der Bekannte, dass er sich über die vollkommen übersteigerte Selbsteinschätzung dieser Führungskraft ärgerte und er gar nicht verstehen könne, dass die Diskrepanz zwischen seiner Meinung und der der Führungskraft so groß war. Er begründete seinen Ärger mit den Worten: „Das ist so typisch. Sie (die Führungskraft) denkt tatsächlich, dass sie schon alles weiß. Es gäbe so viel zu verbessern. Ich habe die Arroganz und Ablehnung in ihrem Gesicht gesehen. Wie kann man nur so von sich überzeugt sein!“ Ich stutzte, sah meinen klagenden Bekannten mit einem Schmunzeln an und erwiderte: „Du hörst dich an wie Othello.“ Fragend sah er mich an: „Othello? Was hat der denn damit zu tun?“

Der Othello-Effekt

Othello, Feldherr in der Republik Venedig und mit der wunderschönen Desdemona verheiratet, wurde das Opfer einer Intrige. Ihm wurde der schreckliche Floh ins Ohr gesetzt, dass Desdemona eine Affäre mit seinem bestem Freund Cassio hätte. Der voreingenommene und rasend eifersüchtige Othello konfrontierte seine Ehefrau mit dieser Anschuldigung, forderte sie auf zu gestehen und beging dabei den Fehler, ihren unter Tränen vorgebrachten Unschuldsbeteuerungen keinen Glauben zu schenken. Rasend vor Eifersucht erwürgte er sie, nachdem er zuvor bereits ihren angeblichen Geliebten getötet hatte. Othello sah, dass Desdemona offensichtlich Angst hatte, als er sie zur Rede stellte. Als sie dann auch noch zu weinen begann, nachdem sie von Cassios gewaltsamen Tod durch die Hand ihres Mannes erfahren hatte, fühlte sich Othello zusätzlich bestätigt. Für die Tränen seiner Frau auf die Nachricht vom Tod ihres Geliebten und für die Angst in ihrem Gesicht konnte es nur eine Erklärung geben: Sie musste schuldig sein. Desdemonas Angst war für Othello ein Schuldbekenntnis des Ehebruchs, der ans Licht gekommen war.
 
Othello hatte Desdemona leider – wie sich später herausstellen sollte – zu Unrecht getötet und zwar ohne anderen Ursachen für die Angst und Pein seiner Ehefrau Raum zu geben: Dass nämlich Desdemonas Angst die Reaktion einer unschuldigen Frau sein könnte, die wusste, dass ihr von Eifersucht geblendeter Ehemann im Begriff war sie umzubringen. Und sie hatte ja keinerlei Möglichkeit mehr, ihre Unschuld zu beweisen, weil der Einzige, der es hätte bestätigen können, bereits tot war.
 

 

Emotion verrät uns nichts über ihren Ursprung

Emotionale Signale, wie z.B. Ärger, Überraschung oder in Othellos Fall Angst, verraten uns nie etwas über ihren Ursprung oder anders ausgedrückt (vgl. Ekman, 2011, S. 80ff):  Wenn ich das Was kenne, weiß ich noch lange nichts über das Warum. Wollen wir den Othello-Effekt vermeiden, müssen wir daher der Versuchung widerstehen, zu rasche und einseitige Schlüsse zu ziehen. Dies gelingt uns nur, wenn wir uns darum bemühen, neben der für uns offensichtlichsten, also der erstbesten Ursache für ein Gefühl, mindestens eine Erklärungsalternative zuzulassen.
 
Wenden wir uns mit dieser Erkenntnis erneut meinem Bekannten zu. Die Führungskraft reagierte auf sein Weiterentwicklungsangebot mit arroganter Ablehnung. Die offensichtlichste Ursache lag für meinen Bekannten auf der Hand: Die Führungskraft erkannte keinen Handlungsbedarf für sich. Diese ablehnende Haltung wurde durch die Erwartungshaltung meines Bekannten verstärkt, der aus seiner Sicht Handlungspotentiale identifiziert hatte und daher mit einer ganz anderen Reaktion gerechnet hatte. Fremd- und Selbsteinschätzung gingen vollkommen auseinander. Mit freundlichen Grüßen, Othello.
 
Welche weiteren Ursachen könnte das ablehnende Verhalten der Führungskraft gehabt haben? Antworten finden sich, wenn wir uns Fragen nach alternativen Ursachen stellen:
 

  • Welche Erfahrungen hatte die Führungskraft in der Vergangenheit mit Weiterentwicklung gesammelt?
  • Welchen Anteil hatte der Berater und die Art und Weise seines Angebots, dass die Reaktion so ausgefallen war?
  • Wie würden der Vorgesetzte der Führungsraft oder das Team reagieren, wenn sie wüssten, dass diese noch Handlungsbedarf in punkto Führung hat?
  • Was wohl andere Führungskräfte über mögliche Defizite dieser Führungskraft denken?

 
Wie ihr seht, eröffnen die Fragen mehrere, alternative Zugänge auf Ursachen für die Reaktion bzw. Emotion der Führungskraft. Der Othello-Effekt ist in unserem Alltag allgegenwärtig und handlungsleitend. Achtet darauf und nehmt euch Zeit dafür, Ursachen zu erforschen. Wenn ihr bei eurem Gegenüber eine Emotion wahrnehmt, dann bewertet sie nicht gleich. Oder, wenn ihr das tut, dann denkt an Othello und gebt einer zweiten Meinung zu eurer Bewertung eine echte Chance.
 
Und in Teil 2 von ScrumMaster sind Meister der Effekte und Illusionen geht es um den Halo-Effekt und seinen Einfluss auf die Teamleistung und die Teamkommunikation.
 
Literatur
Ekman, P. (2011). Gefühle lesen. Wie Sie Emotionen erkennen und richtig interpretieren. Spektrum.

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3 Antworten zu “ScrumMaster sind Meister der Effekte und Illusionen (Teil 1) – der Othello-Effekt”

  1. Ruth Wächter sagt:

    Die Verknüpfung mit Othello´s Geschichte ist ein klasse Griff – schreckt hoch und verdeutlicht mehr als jedes Wort.
    Toller Artikel!
    Die Aufgabe eines Scrum Masters ist nicht, zu beurteilen, sondern die Leistungsfähigkeit zu erhöhen. Ich helfe einem “arroganten Manager” ja nicht weiter, wenn ich nur feststelle, was ihm (angeblich) fehlt. Sondern für mich als Scrum Master sollten seine Defizite die Bausteine sein für die Überlegung: “So, und wie kann ich darauf und damit nun etwas Neues und Besseres bauen?”
    Und schon wird aus der Entrüstung eine Herausforderung!
    Ruth Wächter

  2. Hans-Peter Korn sagt:

    Ein sehr schönes und IMHO “typisches” Beispiel fütr eine verbreitete Form der Beratung, die sich in dieser aussage zeigt: “Etwas irritiert erzählte mir der Bekannte ((ein Unternehmensberater)), dass er sich über die vollkommen übersteigerte Selbsteinschätzung dieser Führungskraft ärgerte und er gar nicht verstehen könne, dass die Diskrepanz zwischen seiner Meinung und der der Führungskraft so groß war.”
    In Coaching-Kreisen habe diese Beratungsform als “Arzt-Patienten-Beziehung” kennengelernt. Sie ist dadurch gekennzeichent:
    o Der Berater sieht sich als “besserwissender” Experte in Bezug auf die Situation seines Kunden, den er als seinen “Patienten” betrachtet
    o Der Berater fühlt sich ermächtigt, seinen Kunden zu diagnostizieren und geht stillschweigend davon aus, dass sein Kunde auch von ihm diagnostiziert werden will
    o Der Berater erstellt eine Hypothese zu den Defiziten seines Kunden und verordnet ihm auch gleicht eine Therapie dazu
    Noch problematischer – auch für einen “echten” Arzt” – ist es aber, wenn der Berater sich in eine “Ko-Abhängigkeit” mit dem “Heilungswillen” seines “Patienten” begibt – und damit zum “hilflosen Helfer” (siehe Wolfgang Schmidbauer, das “Helfersyndrom”) wird. In diesem Beispiel ist das der Fall: “…erzählte mir der Bekannte, dass er sich über die vollkommen übersteigerte Selbsteinschätzung dieser Führungskraft ärgerte… ”
    Dass diese Führungskraft die “ungebetene Diagnose samt Therapieangebot” dieses Beraters als Einmischung betrachtet und daher ablehnend reagiert kann ich gut nachvollziehen.
    Ein Berater kann jedoch auch anders, nämlich als die Selbstkompetenz seines Kunden anerkennender und den eigentlichen Auftrag seines Kunden respektierenden Coach, agieren.
    Und er kann, statt zum hilflosen Helfer zu werden, auch eine angemessene “Absichtslosigkeit” als professionelle Distanz wahren.

  3. Thomas Gäberlein sagt:

    Das Thema klingt einfach, ist aber, meiner Meinung nach, schwer zu beherrschen. Es ist immer wieder gut sich das vor Augen zu führen.

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